Rede von Landtagspräsident André Kuper
anlässlich der Gedenkfeier zum Pogrom 1938
am 10. November 2019, 12:00 Uhr
Jüdischer Friedhof Rheda Wiedenbrück
Anrede,
ich bin sehr dankbar dafür, dass wir uns heute die Zeit nehmen, um innezuhalten und zu erinnern an das, was vor mehr als 80 Jahren in unserem Land geschehen ist.
Synagogen brannten, Geschäfte wurden geplündert, jüdische Menschen gedemütigt, geschlagen und auch getötet. Das war keine Reichskristallnacht, das war eine Reichspogromnacht. Eine Nacht der auf Kopfsteinpflaster dröhnenden Nagelschuhe. Wir wissen das: Am Ende stand die Shoa. Beispiellos in der Geschichte.
Auch die Synagoge hier in Rheda wurde nicht verschont. Eine alte westfälische Landsynagoge, die 1803 geweiht wurde. Um drei Uhr morgens haben sie das Feuer gelegt. In der Nacht! Im Schutz der Dunkelheit! Im Bund mit der Finsternis! Wenn wir die Bilder heute sehen von den brennenden Synagogen, dann wissen wir: Alles war geplant.
Ich weiß nicht, ob es ein Foto von der brennenden Synagoge in Rheda gibt, aber es gibt eines von der in Bielefeld! Wenn wir die Bilder sehen heute, dann spüren wir: da ist mehr zerstört worden als Holz und Stein, als Dächer und Keller. Das war ein Angriff auf unsere Kultur! Das war ein Angriff auf die Zivilisation! Ein Angriff auf uns selber!
II.
Wir haben in diesem Jahr „70 Jahre Grundgesetz“ gefeiert.
70 Jahre Demokratie.
70 Jahre Menschenrechte.
70 Jahre Religionsfreiheit und Gleichheit aller Menschen.
Und vor diesem Hintergrund betrübt es uns in besonderer Weise, was wir vor einigen Wochen in Halle, in Sachsen Anhalt erlebt haben: Ein junger Mann schießt auf die Tür einer Synagoge. Er erschießt zwei Menschen. Er verletzt weitere Menschen. Und: Er zerstört damit nicht nur das Leben anderer, sondern auch sein eigenes Leben und das seiner Familie.
Es ist nicht die einzige antisemitische Tat in unserem Land! In den Tagen nach diesem Terrorakt veröffentlichte eine Zeitung eine Liste mit antisemitischen Taten aus diesem Jahr! Von München bis Kiel! Juden werden bedroht, ihre Kippoth werden heruntergerissen, sie werden bespuckt und geschlagen.
Sie alle kennen die sog. „Stolpersteine“ von Gunter Demnig. Auch hier in Ostwestfalen erinnern sie vor den Häusern an deportierte und ermordete jüdische Bewohner. Beinahe täglich werden solche Steine ausgegraben und gestohlen. Nicht nur in Deutschland, auch beispielsweise in Italien (Rom). Gunter Demnig schätzt die Zahl dieser zerstörten Steine auf eine Zahl im hohen dreistelligen Bereich. (bis 2017 waren es 630)
Das ist unvorstellbar!
Meine Damen und Herren, gegen all das stehen wir auf. Das lassen wir nicht zu! Da sind wir gefordert, auch hier in Rheda-Wiedenbrück.
„Israel ist unser Unglück. Schluss damit“ – Hieß es zweideutig auf einem Wahlplakat der Partei „Die Rechte“ in Dortmund und in anderen Städten. So zweideutig, dass die Justizbehörden gesagt haben, es ist nicht eindeutig antisemitisch. Aber wir wissen, dass es antisemitisch gemeint ist.
Und es ist wenigstens menschenverachtend, wenn dieselbe Partei mit dem Slogan wirbt: „Wir hängen nicht nur Plakate!“
Meine Damen und Herren, das ist nicht weniger als das Wahlversprechen der Wiedereinführung der Todesstrafe!
Wer Wind sät, wird Sturm ernten – so heißt es in der Bibel. Und damit bin ich bei der Ableitung: Aus Worten werden Taten. Unsere Sprache verrät unsere Absicht. Und wer den Nationalsozialismus als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnet, der, meine Damen und Herren, hat keine guten Absichten im Blick auf unser Land und seine Aussöhnung mit Israel und seinen jüdischen Bürgern hier.
Längst sind die Opfer der Rechtsradikalen nicht allein ausländische oder jüdische Menschen. Denken Sie an den Mord an Walter Lübke in Kassel! In Deutschland werden wir Stürme verhindern – und wir werden auch einen neuen Stürmer verhindern, jedwede Art rechtsradikaler Propaganda in Zeitungen wie im Internet!
III.
Heute haben wir uns an dieser Stelle als Demokraten zusammengefunden. Wir stehen alle hier auf dem Boden der Grund- und der Menschenrechte! „Nie wieder!“ – das ist nicht bloß ein Spruch auf irgendeinem Transparent. Sondern damit ist es uns ernst! Wir mögen unterschiedliche Ämter haben, verschiedenen Kirchen oder Parteien angehören. Aber wir sind uns einig darin,
- dass der Weg Deutschlands in die Zukunft nur über den schweren Blick in die Erinnerung möglich ist.
- dass er nur als ein demokratischer Weg möglich ist.
- und dass er nur als ein Weg mit Israel möglich ist und nicht gegen oder ohne Israel.
Und deshalb sage ich: Das hier heute ist keine Folklore! Das ist nicht bloß ein Blick in unsere dunkle Vergangenheit! Das hat mit uns und unserer Freiheit zu tun. Das ist eine Demonstration der Freiheit! Das ist eine Ansage!
- Wir dulden nicht, was wir in Halle gesehen haben im Oktober.
- Wir dulden nicht, was in Chemnitz vor einem Jahr passiert ist: Hier wird kein jüdisches Restaurant überfallen. Wir werden wachsam sein und wehrhaft!
IV.
- Auch vor diesem Hintergrund bin ich dankbar, dass das Präsidium des Landtages vor einigen Wochen die Gedenkstätte Auschwitz besucht hat.
- Ich bin dankbar dafür, dass wir dort jungen Menschen aus unserem Land begegnet sind, Schülerinnen und Schülern, die sich mit der Geschichte der Juden in Europa, mit der Shoa und dem Nationalsozialismus beschäftigen.
- Ich bin dankbar dafür, dass wir am kommenden Dienstag im Düsseldorfer Landtag eine Veranstaltung haben können, die sich mit der Geschichte des Jiddischen befasst. Es wird eine Lesung geben, einen Vortrag zum Jiddischen und es werden Jiddische Lieder gesungen.
- Im Januar wird der Landtag an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren erinnern.
V.
Meine Damen und Herren,
an einem Tag und einem Ort wie diesem kommen einem viele Dinge in den Kopf, die bleibende Aufgaben sind. Die größte dieser Aufgaben, davon bin ich überzeugt, ist es, die europäische Einigung weiter voranzutreiben.
Jede nationalstaatliche Lösung, jeder Sonderweg wirft uns ein großes oder ein kleines Stückchen zurück auf dem Weg, der mit den beiden Worten Frieden und Freiheit umschrieben und flankiert ist.
Eine Gedenkfeier, meine Damen und Herren, wirft den Blick zwar zurück auf das unabänderlich Geschehene! Aber eine Gedenkfeier richtet den Blick zugleich nach vorn und beschreibt Perspektiven.
In diesem Sinne müssen wir das Schwere aushalten, aber wir sind nicht gelähmt. Wir stehen an einem Tag wie diesem besonders eng an der Seite unserer jüdischen Bürgerinnen und Bürger!
Wir sind einfach dankbar, dass es sie gibt!